Coronavirus und Digitalisierung: Automarkt in China bricht ein
2019 war kein gutes Jahr für die chinesische Automobilindustrie mit insgesamt nur 25,8 Millionen verkauften Fahrzeugen – ein Marktrückgang von 8,2 Prozent im Vergleich zu 2018. Lange war unklar, ob und wie sich diese Entwicklung in diesem Jahr fortsetzen würde. Spätestens mit Ausbreitung des Coronavirus ist nun offensichtlich, dass 2020 die gesamte Industrie vor Herausforderungen stellen wird.
Tatsächlich sind die ersten Verkaufszahlen dramatisch schlecht. Im Januar sank der Pkw-Absatz in China um 21,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat und lag bei nur 1,699 Millionen Einheiten. Allerdings hatte der Monat aufgrund des chinesischen Neujahrsfestes lediglich 17 Arbeitstage. Dr. Jan Burgard, geschäftsführender Partner bei Berylls Strategy Advisors: „Nach den ersten zwei Februar-Wochen zeigt sich, dass der chinesische Markt mittlerweile praktisch kollabiert ist. Der Rückgang liegt bei 92 Prozent.“ Nur etwa 4900 Autos wurden verkauft, verglichen mit dem Vorjahreszeitraum. Da waren es noch rund 60.000 Fahrzeuge wie der Verband „China Passenger Car Association“ (CPCA) meldet. Der Februar ist in China jedoch generell kein verkaufsstarker Monat und dessen Auswirkung auf das Gesamtjahresergebnis nach einer Berylls-Prognose daher gering. Nach derzeitigem Stand wird von einem Rückgang des Absatzes in 2020 um rund sechs Prozent ausgegangen – vorausgesetzt das Coronavirus wird zeitnah eingedämmt.
Viele Medien sehen vor allem die Produktionsstandorte in den Provinzen beispielsweise Hubei, Zhejiang und Guangdong von der Misere betroffen – inklusive Zuliefererkette. Aber diese Annahme greift zu kurz. Denn tatsächlich leidet, nach Beobachtungen von Berylls, ein anderer, sehr wichtiger Teil der Wertschöpfungskette überproportional: der Handel.
Als am 10. Februar in vielen Städten die Arbeit wieder aufgenommen wurde, blieben weit mehr als 70 Prozent der insgesamt rund 1100 Voll-Service-Autohändlerbetriebe in Ost- und Südchina geschlossen – davon rund 70 Prozent aufgrund lokaler Gesetzesregelungen. Weitere 25 Prozent gaben als Grund an, die Gesundheit der Mitarbeiter nicht gefährden zu wollen. Von den wenigen geöffneten Händlern denkt bereits ein großer Teil an eine erneute Schließung, denn vielfach ist der Kundenfluss nahe Null. Eine Umfrage unter ca. 4500 Händlern in Gesamtchina vom 18. Februar ergab, dass landesweit weniger als zehn Prozent von ihnen vollständig zum Tagesgeschäft zurückgekehrt sind.
Um diese Lücke auszugleichen, haben die Hersteller schnell reagiert und bereits erste Maßnahmen ergriffen, vor allem im Bereich der Digitalisierung. Sie sollen den Kunden einen Weg zum Händler ersparen.
So werden Ausstellungsfahrzeuge und Showrooms in kurzen Videos vorgestellt, Video-Konferenzen unterstützen bei Verkaufsgesprächen. Das Online-Marketing wird stark intensiviert und die Online-Fahrzeugkonfiguration gepusht. Angebote für Online-Versicherungen und Finanzierungsangebote werden stärker in den Fokus gerückt, ebenso die Online-Aftersales-Terminbuchung. Außerdem werden Fahrzeug-Hol-und Bring-Services eingerichtet, neue Fahrzeuge zum Kunden geliefert. Virtual Reality soll das Fahrzeugerlebnis ersetzen, dazu kommt We-Chat-Live Streaming. Autos werden zudem für Testfahrten direkt zum Kunden gebracht und anschließende Online-Autokaufmöglichkeiten geschaffen.
Die Krise deckt Defizite auf
Dr. Jan Burgard: „Obwohl bereits einige Ansätze existieren, um den Fahrzeugverkauf trotz der widrigen Bedingungen aufrechtzuerhalten, hat der Fahrzeug-Handel aus unserer Sicht die Digitalisierung bislang zu zaghaft vorangetrieben. Daher werden die neu geschaffenen Maßnahmen nicht ausreichen, um die genannten Verluste auszugleichen.“ Denn die beschriebenen Lösungen stellen lediglich punktuelle Maßnahmen dar, eine gesamtheitliche Abdeckung, die ein Voll-Service-Händler theoretisch anbietet, wird nicht erreicht.
Die Corona-Krise zeigt außerdem schonungslos jene Defizite auf, die dringend behoben werden müssen, damit der von allen Herstellern angestrebte Online-Handel funktionieren kann. Denn viele Hersteller verfolgen das Ziel, künftig 25 Prozent oder mehr aller verkauften Autos, ohne physischen Kontakt zum Vertriebspartner, an den Kunden zu bringen. Diesem Anspruch laufen die Hersteller derzeit jedoch erfolglos hinterher. Dr. Jan Burgard: „Es ist nicht möglich, von heute auf morgen den Hebel von analogem Verkauf auf Digital Sales umzulegen. Das Online-Kundenerlebnis weist dafür noch zu viele Brüche auf.“
Zwar können viele der Serviceangebote digital abgebildet werden, allerdings haben sich Hersteller zu lange auf den physischen Handel verlassen, so dass die aktuellen Vorhaben keine größeren Effekte erzielen werden. Eine weitere Herausforderung sind große Online-Plattformen wie Autohome. Da deren Angebot sämtliche Services rund um das Auto beinhaltet, bieten sie eine viel größere Informationsfülle als OEM-Webseiten und -Applikationen. Und deshalb werden sie von vielen Chinesen bevorzugt.
Die bittere Pille für die Hersteller ist, dass sie die Auswirkungen des Coronavirus noch lange spüren werden, selbst wenn sie ihre Angebote bestmöglich digitalisieren. Denn ein ganz entscheidender Baustein der Customer-Journey lässt sich nicht in ein Online-Tool überführen: die Testfahrten. Dr. Jan Burgard: „Testfahrten sind immer noch ein integraler und sehr wichtiger Teil der Kaufentscheidung. Es ist vorstellbar, dass mit der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten kommende Generationen bereit sind, auf solche Tests zu verzichten. In der aktuellen Krise hilft dies aber leider nicht weiter – an Alternativen für Testfahrten müssen die OEMs dennoch arbeiten und zwar mit Hochdruck.“ ampnet
Foto: Ampnet
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