Das Fahrrad boomt – und nun?

Radfahren erlebt durch Corona eine unerwartete Nachfrage in Deutschland und Europa. Händler und Hersteller melden vielerorts Umsatzrekorde. Doch das wirft andere Fragen auf: Wie steht es um die langfristige Lieferfähigkeit? Wie ändert das neue Mobilitätsverhalten die Verkehrspolitik? Oder generell: Wie nachhaltig ist der momentane Boom? Der pressedienst-fahrrad hat bei einer digitalen Pressekonferenz bei Branchenexperten nachgefragt.

Unisono sind sich die Fahrradexperten einig: 2020 ist ein außergewöhnliches Fahrradjahr. Während März und April, die eigentlich starken Verkaufsmonate im Fahrradhandel, aufgrund des Lockdowns für den stationären Handel fast komplett ausfielen, boomt das Thema Radfahren seit der Wiedereröffnung der Radläden Ende April. Hersteller und Händler berichten von neuen Wachstumsrekorden. „Bester Monat aller Zeiten“, „50 Prozent und mehr als im Vergleich zum Vorjahr“ oder „Verkauft so gut wie nie“ – das sind Aussagen, die man von Fahrradindustrie und ‑handel dieser Tage oft hört. Doch genaue Wachstumszahlen für den kompletten Fahrradmarkt können von Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und Verbund Service und Fahrrad (VSF) noch nicht genannt werden. Deshalb treten die Verbandsvertreter sogar etwas auf die Euphoriebremse. „Abgerechnet wird am Ende des Jahres. Wir haben jetzt eine sehr starke Nachfrage. Wie nachhaltig diese sein wird, ist die Frage“, fasst Albert Herresthal, Geschäftsführer des VSF e. V. zusammen. „Wir wissen noch nicht, wie lang wir diesem Braten trauen sollen“, meint auch Alexander Kraft vom Liegeradhersteller HP Velotechnik, der in den letzten Wochen ebenfalls sehr gute Verkäufe verzeichnete. Sebastian Göttling vom Lichthersteller Busch & Müller ergänzt: „Es ist noch viel zu früh für eine konkrete Aussage. Die erhöhte Nachfrage setzt auch zeitversetzt ein.“ Erst die nächsten Monate werden über die weitere Entwicklung entscheiden. „Wir nutzen den momentanen Boom, um auch der Politik zu zeigen, was das Fahrrad alles kann, damit bessere Rahmenbedingungen kommen. Wir haben noch viel Arbeit vor uns“, so Herresthal.

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Kein Weg vorbei an besserer Infrastruktur

Neue Rahmenbedingungen seien besonders wichtig, da durch Corona gerade Wieder- und Neueinsteiger sowie Familien das Fahrrad als Fortbewegungsmittel entdecken. „Auffällig ist, dass über alle Radgattungen hinweg günstige Räder und Einstiegspreislagen gekauft werden“, unterstreicht David Eisenberger, Kommunikationsleiter beim ZIV. Doch der Verkauf allein reicht eben nicht für einen langfristigen Mobilitätswandel. Mehr und gerade ungeübte Radfahrer brauchen genauso eine bessere Infrastruktur. Der Boom solle nicht mit steigenden Unfallzahlen einhergehen – denn dann kann er auch schnell wieder vorbei sein. Deshalb ist mehr öffentlicher Druck wichtig, damit die Politik auf allen Ebenen mehr in den Radverkehr investiert. In vielen deutschen Städten sind dafür mittlerweile Radinitiativen am Werk. „Es gibt ein paar gute Beispiele und in immer mehr Städten passiert etwas. Ich bin an dieser Stelle optimistisch“, sagt Burkhard Stork, Bundesgeschäftsführer des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC). Das Beispiel Berlin zeige, wie schnell Radwege auch in Corona-Zeiten verwirklicht werden und komplette Radverkehrsnetze entstehen können. „Jede Stadt kann das sofort anordnen. Flächendeckende Radinfrastruktur soll nicht auf Berlin beschränkt bleiben“, nimmt Stork auch andere Kommunen in die Pflicht. Dabei treibt eine aktuelle Entwicklung den Verbandsvertretern jedoch Sorgenfalten auf die Stirn: Ein Teil des Fahrradbooms scheint auf Kosten des ÖPNVs zu gehen. „Wir haben eigentlich kein Interesse an einer Kannibalisierung des öffentlichen Nahverkehrs“, meint Stork. Es gelte jetzt, gemeinsam sinnvolle Lösungen mit den Anbietern öffentlicher Verkehrsmittel zu finden, um ein vernünftiges Verkehrsnetz mit Rad, Bahn und Bus zu bekommen – und so den Umstieg vom Auto auf klimafreundlichere Verkehrsmittel zu fördern. „Wir müssen in gute Gespräche kommen“, so der ADFC-Mann.

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Nachschub gerät ins Stocken

Wie langfristig der Boom ausfallen wird, hängt allerdings auch vom Faktor Lieferfähigkeit ab. Viele Fahrräder und Fahrradteile werden in Südostasien produziert. Dort standen die Fabriken aufgrund von Corona ebenfalls teilweise über Monate still. Während sich jetzt bei manchem Händler die Lager leeren, fehlt es an Nachschub. Die Produktion läuft zwar wieder, aber Rohstoffknappheit und Probleme bei Transport und Logistik treten auf. Dazu kommen Lieferverzögerungen bei Anbietern von wichtigen Komponenten wie Schaltungen oder elektronischen Teilen für E‑Bikes. „Die Hersteller arbeiten mit Hochdruck daran, lieferfähig zu bleiben“, beschwichtigt Eisenberger, gibt jedoch auch zu bedenken, dass eine nachhaltige Entwicklung nur möglich ist, wenn die Produktionsplanungen für das nächste Jahr auch entsprechend angepasst werden: „Es ist nicht so einfach nachzuholen, was zwei Monate lang nicht möglich war.“ Jörg Müsse, Geschäftsführer der Bico GmbH, ein Handelsverband mit rund 800 Fachhändlern, prognostiziert jedoch: „Ich sehe eine Lieferverzögerung gegen Spätsommer, Frühherbst kommen.“ Das beeinflusse auch die Planungen für 2021, die sich aktuell als äußerst schwierig erwiesen. Hersteller und Händler wüssten nicht, ob der Boom weitergeht und wie viel Ware sie auf Lager halten sollen. „Deshalb: Daumen hoch, aber doch gewisse Sorge“, fasst Müsse die aktuelle Lage zusammen.

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Mehr Digitalisierung für Fachhändler

Als weiteren möglichen Flaschenhals erkennt Herresthal den Fahrradfachhandel. Eine aktuell hohe Werkstattauslastung und gute Verkaufszahlen kombiniert mit den Corona-Regeln bringen viele Händler an ihre Grenzen, auch weil es sich um kleine Geschäfte mit wenigen Mitarbeitern handelt. „Viele Händler im VSF können keine Steigerungsraten mehr hinlegen. Gerade die aufwendige Fachberatung aufrecht zu erhalten, ist erschwert“, so Herresthal. Deshalb seien eine Umstellung auf digitale Möglichkeiten sinnvoll und man arbeite auch von Seiten des Verbandes an Lösungen. Und auch bei der Industrie stoßen die Mitarbeiter mittlerweile an so manche Belastungsgrenze: „Wir fahren seit sechs Wochen Überstunden und Samstagsschichten, um alle Anfragen zu bedienen“, so Peter Wöstmann vom Taschenspezialisten Ortlieb. Deshalb macht man sich auch hier Gedanken, wie es weitergeht. „Die gesteigerte Nachfrage ist da, aber auch die Frage: wie können wir uns für nächstes Jahr rüsten?“, fasst Sarah Bauckmann vom Luftpumpen- und Schutzblechspezialisten SKS Germany zusammen. (pd‑f/tg)