CES 2016: Die tektonische Verschiebung
Während einige der traditionellen Automessen um Relevanz, gar um die Existenz kämpfen, steigt im US-Staat Nevada eine echte Erfolgsgeschichte: Die ehemalige Consumer Electronics Show in Las Vegas – sie will inzwischen nur noch CES genannt werden – hat sich von einer Fachmesse für Elektronik und High-Tech-Spielereien zu einem Tummelplatz für die Autoindustrie entwickelt.
Elektronik-Fans kommen noch immer auf ihre Kosten – und tatsächlich buhlen neben den internationalen Schwergewichten zahllose kleine, mehr oder weniger innovative Entwickler und Tüftler um Aufmerksamkeit. Doch der Ansturm der Automobilhersteller in die Wüstenmetropole hat die CES gleichsam zur ersten Automesse des Jahres verwandelt.
Der Drang nach Las Vegas ist kein Zufall: Die wachsende Bedeutung von Telematik und Infotainment hat bereits zu einer massiven Verlagerung von Entwicklungsressourcen geführt. Früher beschränkte sich das Thema weitgehend auf Radiogeräte, die oft nachgerüstet wurden. Heute ist Infotainment eines der wichtigsten Differenzierungsmerkmale beim Autokauf. Für viele Kunden ist ein schwer zu bedienendes oder schlecht integriertes Infotainmentsystem ein entscheidender Mangel.
Wir erleben nicht weniger als eine tektonische Verschiebung: Chassis, Karosserie und Antrieb definieren das Auto nicht mehr alleine; der Fokus verlagert sich auf Infotainment und Telematik. Was uns auf der diesjährigen CES aufgefallen ist:
1. Die E-Mobilität bleibt, die Politik bekommt ihren Willen: Während der tatsächliche Nutzen von Elektroautos für die Umwelt mehr als fraglich ist, zwingen die verzerrten Zertifizierungsmethoden in der ganzen Welt die Autohersteller, Elektroautos und Plug-in-Hybriden in den Markt zu drücken. Der hochgepeitschte „Diesel-Skandal“ hat den Verbrennungsmotor im Wettkampf der Antriebskonzepte weiter beschädigt. Hinzu kommt: Die Elektroautos werden attraktiver. Audi bringt den E-Tron Quattro Concept mit rund 500 Kilometern Reichweite in Serie, und der Preis könnte bei geradezu sensationellen 60 000 Euro liegen. Und Daimler will eine ganze Familie von Elektroautos bringen. Weiterhin gibt es die i-Familie von BMW, und auch die neuen Konzepte von GM und Volkswagen versprechen Fahrfreude.
2. GM beeindruckt mit dem Chevrolet Bolt, dem kleinen Bruder des Volt. Der sportlich gezeichnete Kompaktwagen wird noch heuer in Produktion gehen, und er wird Konkurrenzmodellen wie dem BMW i3 oder der mit Tesla-Technik elektrifizierten B-Klasse von Mercedes-Benz das Leben nicht leichter machen. Eine ominöse Funktion unter dem Stichwort „Gamification“ soll es Piloten ermöglichen, ihren Fahrstil im Sinne maximaler Effizienz zu vergleichen.
3. VW versucht, mit einem Minivan-Konzept namens Budd-e Sympathiepunkte zu erheischen – mit geringem Erfolg, denn die aktuelle, kantige Formensprache passt einfach nicht zum Ansatz, den legendären „Bulli“ wiederaufleben zu lassen. Technisch überzeugt der Budd-e allerdings auf ganzer Linie: Er basiert auf der neuen Elektro-Architektur MEB, auf der eine Reihe weiterer Modelle erscheinen sollen. Wolfsburg glaubt (reichlich optimistisch), dass eine Reichweite wie beim Ottomotor und eine Ladezeit von einer halben Stunde für 80 Prozent Kapazität „den Durchbruch der E-Mobilität“ bedeuten. Immerhin, es ist ein Fortschritt.
4. Audi will in Sachen Interieur-Design und Bedienkonzept die Krone zurückerobern; gelingen soll dies mit einer neuen Gestaltung und ultraschnellen, teils redundanten Eingabemöglichkeiten auf Basis der neuen Infotainment-Architektur MIB 2+. Sie wird 2017 mit dem kommenden A8 eingeführt. Gleichzeitig sollen im Interieur OLED-Oberflächen mit haptischer Rückkopplung eingebaut werden. Ricky Hudi, Chef der Elektronikentwicklung, prophezeit: „Das Interieur der Zukunft wird die Art und Weise, in der unsere Kunden das Auto bedienen und erleben, grundlegend verändern.“
5. Es wird keinen BMW i8 Spyder geben. Das in Las Vegas gezeigte Concept Car wurde ausgewählt, um das futuristische Cockpit besser zeigen und erlebbar machen zu können. Sollte es weitere Derivate des exotischen Plug-in-Hybriden geben, so steht die Verbesserung von Leistung und Fahrverhalten der Coupé-Variante an oberster Stelle.
6. Die Zweispeichen-Lenkräder sind wieder da – jedenfalls bei den Prototypen: Der BMW i8 Spyder hat eines, der VW-Budd-e auch, gleiches gilt für Interieur-Konzepte wie etwa von ZF. Doch wer der konformistischen Pseudo-Sportlichkeit der allgegenwärtigen Dreispeichen-Lenkräder überdrüssig ist, hat noch keinen Grund zur Freude: In Serie gibt es so etwas derzeit nur beim BMW i3 und bei der S-Klasse von Mercedes-Benz, wo das Zweispeichenlenkrad zur anstehenden Modellpflege einem (was sonst?) Dreispeichenlenkrad weichen muss.
7. Kia hat für die autonomen Fahrfunktionen eine veritable Untermarke kreiert – genannt „Drive Wise“. Der Stand der koreanischen Marke lud ein, autonomes Fahren im Rahmen einer Videosimulation zu erleben. Und die bestand aus einem virtuellen Feuergefecht, dem sich der Fahrer weitaus leichter stellen kann, wenn er sich nicht mit dem Fahren aufhalten muss. Ist dies das „reale Fahrszenario“, das Kia in seiner Verkaufsliteratur versprochen hat?
8. Noch genießt Tesla „Welpenschutz“, aber die Geduld der Branche nimmt ab. Der geradezu leichtfertige Umgang mit Kunden, die als Beta-Tester für die autonomen Fahrfunktionen fungieren, könnten im schlimmsten Fall einen Rückschlag für die gesamte Technologie bedeuten. Dass die Kalifornier ihren „Autopiloten“ als führend anpreisen, lässt Experten trocken auflachen. Jede der autonomen Fahrfunktion im Model S könnte von einer Reihe von Konkurrenten ebenfalls dargestellt werden – mit einem höheren Grad an Perfektion. Aber für die anderen Hersteller ist auch das bei diesem sicherheitsrelevanten Thema noch nicht gut genug.
9. Die Brennstoffzelle lebt: Daimler kündigt einen GLC an, der mit Wasserstoff Energie erzeugt und noch 2017 in Serie gehen wird. Warum? Vor allem wegen Japan. Der Markt ist klein, aber es wird weiter wachsen. Und vielleicht kann Wasserstoff die großen Batterien eines Tages verdrängen.
10. Faraday Future hat Einblick in die Zukunftspläne gewährt – aber nur ein bisschen, denn der einsitzige 1000-PS-Sportwagen auf der CES hat keine Chance auf eine Serienfertigung. Eigentlich sollte hier ein Crossover-SUV stehen, etwa im Audi-Q5-Format und auf der gleichen Plattform wie der gezeigte Sportwagen FF Zero1. Doch das Modell ist nicht fertig geworden, und so muss sich das Publikum noch einige Monate gedulden.
Fotos Ampnet
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